Inklusion in der Schule
Am 26. März 2009 trat die
UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland in Kraft. Sie ist nun
geltendes deutsches Recht und muss umgesetzt werden. Dabei muss Deutschland das
Leitbild der Konvention achten: die Inklusion, also die vollumfängliche Einbeziehung
behinderter Menschen in die Gesellschaft von Anfang an.
So muss z. B. gemäß Art. 24 UN-BRK ein
inklusives Bildungssystem geschaffen werden, bei dem Kinder mit Behinderungen
nicht aus dem allgemeinen Schulsystem ausgegrenzt, sondern einbezogen werden.
Das gemeinsame Lernen behinderter und nicht behinderter Kinder soll damit zur
Regel werden, sie verpflichtet die Staaten damit zum Aufbau eines „inklusiven
Bildungssystems“. Die Bilanz der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland ist
allerdings beschämend.
Nach zwei Jahren hat das Land Hamburg
einen individuellen Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen gesetzlich
eingeführt, in Niedersachsen gibt es einen Rechtsanspruch ab 2013. In alle
anderen Bundesländern ist die Umsetzung bisher nicht in den Schulgesetzen der
Länder umgesetzt worden. Nennenswerte Erfolge bei der Integration von Kindern
und Jugendlichen mit Behinderung in die Regelschulen haben bisher die Länder Hamburg,
Bremen und Schleswig-Holstein vorzuweisen. Hier ist z.B. auch zu
verzeichnen, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Autismus-Spektrum Störung
die Regelschule mit Hilfe eines Integrationshelfers besuchen. Die Durchsetzung
der Kostenübernahme ist durchaus oft noch gerichtlich zu erstreiten, doch es
konnten bereits mehrere Erfolge diesbezüglich in Hamburg und Schleswig-Holstein
mit Hilfe der Unterzeichnerin erreicht werden. Niedersachsen sprach von Inklusion, hatte bis zur Verabschiedung
des neuen Schulgesetzes am 23.03.2012 bisher aber keine geeigneten Maßnahmen
getroffen, um ein inklusives Bildungssystem aufzubauen.
Im Einzelnen sieht die Umsetzung des
Art. 24 UN-BRK in den Ländern wie folgt aus:
Hamburg: Hat in der Neufassung seines Schulgesetzes in § 12: „Alle Kinder mit
sonderpädagogischem Förderbedarf haben das Recht, allgemeinbildende Schulen zu
besuchen“ den individuellen Rechtsanspruch jedes Kindes auf integrative
Beschulung anerkannt.
Bremen: Seit August 2009 gibt es ein neues Schulgesetz, das wesentliche Aspekte des
Art. 24 UN-BRK aufnimmt. Das Schulgesetz wurde einem Schulentwicklungsplan
angepasst, der eine komplette Umstrukturierung des Schulsystems beschreibt. Im
Bremer Schulgesetz gibt es allerdings einen Satz, der einer tatsächlichen
Entwicklung hin zu Inklusion widerspricht: „Über den Ort der Förderung
entscheidet die Behörde.“ Hiermit wird der Wunsch der Eltern, welche die
Schule in der Nachbarschaft wählen möchten, durchaus abgelehnt.
Schleswig-Holstein: Hat schon vor der UN‐BRK den gemeinsamen Unterricht im Land massiv ausgebaut. Bereits 2010
gingen rund die Hälfte aller Kinder mit Behinderung inzwischen in Regelschulen.
Niedersachsen:
Als
Bundesland mit den meisten heilpädagogischen Kindertagesstätten wurde bereits
im Elementarbereich separiert: Knapp die Hälfte aller Sonderkindergärten in
Deutschland befinden sich in Niedersachsen, nur jedes zweite Kind mit
Behinderung besuchte „den Kindergarten nebenan“. Auch in den Schulen ist die
Integrationsquote in Niedersachen die Schlechteste: Lediglich jedes 10.
Schulkind mit Behinderung geht in eine allgemeine Schule. Das neue Schulgesetz
vom 23.03.2012 wird dies jetzt hoffentlich ändern. Es tritt zum 01.08.2012 in
Kraft und sieht einen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung ab einer
Einschulung 2013 vor. Zuvor gilt eine Übergangsfrist mit der Möglichkeit der
inklusiven Beschulung.
Absichtserklärungen und erste zögerliche
Planungsschritte für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems sind erkennbar
in den Ländern Nordrhein-Westfalen, Saarland, Rheinland-Pfalz
und Berlin.
NRW: Bekannte sich im
Koalitionsvertrag zur Umsetzung der UN‐BRK und zum
Aufbau eines inklusiven Schulsystems. Die bisher ergriffenen Maßnahmen sind
jedoch nicht ausreichend und die Situation in den Schulen vielerorts
unverändert schlecht. Die Ausweitung des gemeinsamen Unterrichts ist bisher
völlig unzureichend. Viele Kinder und Jugendliche müssen weiterhin gegen ihren
Willen eine Sonderschule besuchen. Auch Zwangszuweisungen in Sonderschulen, zum
Teil unter Androhung von Zwangsgeldern, sind durchaus üblich.
Saarland: Einen einklagbaren individuellen Rechtsanspruch wird es wahrscheinlich
nicht geben, die Ressourcen dafür seien nicht vorhanden. Bisher ist die
Inklusion in der Schulpolitik nicht verankert. Es gibt ein 2‐Säulenmodell aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule, ohne dort die Inklusion
und die SchülerInnen mit sonderpädagogischem
Förderbedarf zu verankern. Gymnasien werden nur insofern einbezogen, dass sie
künftig baulich barrierefrei sein sollen. Derzeit ist
im Land eine Schulgesetzänderung in Arbeit, die sich auch auf die Inklusion
beziehen soll.
Rheinland-Pfalz: Ein individueller Rechtsanspruch auf Integration wird faktisch umgesetzt,
eine Anpassung des Schulgesetzes und der Schulordnungen sind noch nicht
erfolgt.
Berlin: Erkennt den individuellen Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen nicht an.
Erreicht werden soll ein „Elternwahlrecht“, nach dem Eltern ausdrücklich auch
die Förderschule wählen können. Ein Ausbau des gemeinsamen Unterrichts ist
vorgesehen, aber unter engen finanziellen Vorgaben: „Das Land Berlin ist
innerhalb seiner finanziellen Möglichkeiten verpflichtet, ein Höchstmaß an
inklusiver Beschulung zu ermöglichen.“ Bis heute wird eine Beschulung in
einem Integrationsplatz nur erreicht, wenn gekämpft wird, um diesen
durchzusetzen. Bei den Förderschwerpunkten „geistige Entwicklung“, „Autismus“
und den Kindern mit einer schwereren Beeinträchtigung wird vielen Eltern
geraten, dass ihre Kinder an den Sonderschulen besser aufgehoben wären.
Das Land Hessen spricht von
Inklusion, trifft aber bisher keine geeigneten Maßnahmen, ein inklusives
Bildungssystem aufzubauen. Hessen hat ein neues Schulgesetz beschlossen. Die Inklusion Kinder mit Behinderung steht
in dem neuen Gesetz unter einem sogenannten "Ressourcenvorbehalt".
Die verbindlichen Vorgaben der UN-BRK werden damit nicht erfüllt und ein individueller Rechtsanspruch auf inklusive Bildung wird nicht anerkannt. Kinder mit Behinderung werden laut Gesetz
pauschal den Regelschulen zugeweisen, aber für ihre Förderung sollen keinerlei
Ressourcen bereit gestellt werden. Um der UN‐BRK formal
gerecht zu werden, wird der gemeinsame Unterricht quantitativ ausgebaut, auf Kosten
der Qualität: 2010 wurden 500 Kinder mit Förderbedarf mehr in den Gemeinsamen
Unterricht aufgenommen, ohne dass die Mittel aufgestockt worden wären. Nach
altem, geltendem Recht haben Eltern die Wahl zwischen Förder‐ und allgemeiner Schule. Allerdings muss die Behörde der Wahl
widersprechen, wenn die sächlichen, räumlichen und personellen Bedingungen
nicht vorhanden sind. Zudem müssen sich Eltern durchaus entgegenhalten lassen,
dass Unterricht an einer allgemeinen Schule nicht dem Wohl ihres Kindes entspräche
und deshalb die Behörde anders entscheiden müsse.
Nach neuem Recht – vermutlich ab
Einschulung 2012 – gibt es theoretisch einen Vorrang der allgemeinen Schule,
der aber auch wieder an den Haushaltsvorbehalt gebunden ist. Zudem entscheiden
die Förderzentren über die Vergabe der (gedeckelten) Ressourcen.
Die Länder Sachsen, Bayern
und Baden-Württemberg schließlich, verweigern die Inklusion insgesamt.
Unter dem Deckmantel inklusiver Rhetorik wird die Integration von Schülerinnen
und Schüler mit Behinderung weiterhin tatkräftig beeinträchtig.
Sachsen: Hier wird ein erhöhter Anteil von Schülerinnen und Schülern einem
sonderpädagogischen Förderbedarf zugewiesen. (2009: 8,3 Prozent gegenüber
Bundesdurchschnitt von 6,0 Prozent). Von diesen ca. 23.000 Schülern werden nur
etwa 18 Prozent an allgemeinen Regelschulen integrativ unterrichtet. Dabei
fällt dieser Anteil von 27 Prozent Integrationsquote im Grundschulbereich auf
knapp 13 Prozent in der Sekundarstufe. Inklusive Bildungsangebote gibt es noch
am ehesten in Kindertageseinrichtungen. Beim Übergang in die weiterführenden
Schulen der Sekundarstufe müssen dann viele Kinder aus Mangel an inklusiven
Bildungsangeboten an eine Förderschule wechseln.
Bayern: Deutet Art. 24 der UN‐BRK nicht als einklagbaren individuellen Rechtsanspruch, sondern als
Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems. Die Grundlinie lautet
hier: Fortentwicklung der Kooperationsmodelle, d.h. der „bewährten
Entwicklung“: Inklusion durch Kooperation. Einzelintegration an der Regelschule
soll zwar rechtlich möglich gemacht werden, aber das wird nur als „soziale
Integration“ angesehen ohne Anspruch auf optimale Förderung.
Baden-Württemberg: Das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport hat im Mai 2010 Regelungen zur
„Schulischen Bildung von jungen Menschen mit Behinderung“ vorgelegt. Diese
Regelungen werden in fünf Schwerpunkregionen erprobt und angeblich umgesetzt.
Danach können Schülerinnen und Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches
Bildungsangebot den gemeinsamen Unterricht an allgemeinen Schulen besuchen,
auch wenn diese Schülerinnen und Schüler dem jeweiligen Bildungsgang der
allgemeinen Schule nicht folgen können. Die allgemeinen Schulen treffen
angemessen Vorkehrungen, was dies bedeutet ist allerdings nur schwer nach zu
vollziehen. Hierbei werden sie von den Sonderpädagogischen Bildungs‐ und Beratungszentren unterstützt, ungeklärt ist, wie diese Unterstützung
aussieht. Das Förderschulsystem soll nicht abgeschafft, sondern explizit
ausgebaut werden. Die Sonderschulen sollen in Sonderpädagogischen Bildungs‐ und Beratungszentren umbenannt werden, welche die gesamte
sonderpädagogische Förderung an allen Schulformen regeln.
Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen-Anhalt und Thüringen: Es sind keine
Maßnahmen zur Umsetzung bekannt.
Die SPD-Fraktion verlangt die Umsetzung
der UN-BRK und hat am 1. Dezember 2011 einen entsprechenden Antrag (BT-Drs. 17/7942) auf Überprüfung der deutschen Gesetze auf
ihre Vereinbarkeit mit der UN-BRK gestellt.
©Rechtsanwältin Franziska Benthien
Fachanwältin für Sozialrecht
www.ra-benthien.de