Neues Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.06.2009 (Az. B 1 KR 17/98 R) zu der Berechnung der Belastungsgrenze bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Im Laufe eines Kalenderjahres gibt es bestimmte Belastungsgrenzen. Sind diese erreicht, kann eine Befreiung bei der Krankenkasse von den Zuzahlungen beantragt werden.
Die Belastungsgrenze liegt nach § 62 Abs. 4 SGB V bei 2% des jährlichen Bruttoeinkommens, bei chronisch Kranken bei 1% der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Frühere geltende Regelungen wie die Sozialklausel, Härtefälle und Überforderungsklausel haben keine Geltung mehr. Als "belastet" gilt, somit wer mehr als 2% der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt für Zuzahlungen ausgeben muss(te). Mit Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt ist das Familienbruttoeinkommen gemeint, d.h. es wird das Bruttoeinkommen des Versicherten selbst und das Bruttoeinkommen aller Angehörigen des Versicherten, die mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt leben, zusammen gerechnet. Als Nachweise können hier z.B. Verdienstbescheinigung, Rentenbescheid, Bescheide vom Arbeitsamt etc. gelten.
Angehörige des Versicherten sind: der Ehepartner, die Kinder, die eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartner (nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz) und sonstige Angehörige nach § 7 Abs. 2 KVLG (Krankenversicherung der Landwirte). Nicht zu den Angehörigen zählen: die Partner einer ehe ähnlichen verschieden geschlechtlichen oder nicht eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft.
Von diesem Bruttoeinkommen sind ein oder mehrere Freibeträge abzuziehen. Diese Freibeträge sind bisher von vielen gesetzlichen Krankenkassen (GK) zu niedrig oder falsch angesetzt worden, so dass viele gesetzliche Versicherten die Belastungsgrenze vielleicht gar nicht erreicht haben und keine Befreiung von den Zuzahlungen erhalten haben.
Für Angehörige die im gemeinsamen Haushalt leben, wird nach § 62 Abs. 2 S. 2 SGB V für den ersten in dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten als Freibetrag 15% der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV abgezogen. Für jeden weiteren im Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten als Freibetrag 10% der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV. Für 2010 sehen die Bezugsgrößen des § 18 SGB IV wie folgt aus: In den alten Bundesländern 30.660,-- Euro im Jahr (= 2.555,-- Euro im Monat) und in den neuen Bundesländern 26.040,-- Euro im Jahr (= 2.170,-- Euro im Monat). Für 2010 ergibt sich damit ein für die alten Bundesländer gerechneter Freibetrag in Höhe von 4.599,-- Euro (15% von der Bezugsgröße 30.660,-- Euro) für den im Haushalt lebenden Angehörigen. Für Kinder wird nach § 32 Abs. 6 EstG für 2010 eine Summe in Höhe von 3.504,-- Euro bzw. 7.008,-- Euro pro Kind (verdoppelt bei zusammen veranlagten Ehegatten) abgezogen. Dies setzt sich aus 2.184,-- Euro sächlichem Existenzminimum des Kindes und 1.320,-- Euro Betreuungs- und Erziehungsbedarf oder Ausbildungsbedarf des Kindes zusammen.
Hier liegt jetzt die Neuerung durch das Grundsatzurteil des BSG. Zuvor wurden von den Krankenkassen immer nur die Summe des sächlichen Existenzminimums in Höhe von 2.184,-- Euro (oder verdoppelt 4.368,-- Euro) angesetzt. Ein Familienvater aus Bremen hatte auf den höheren Freibetrag hingewiesen, der eindeutig so im Gesetz stehe, jedoch von den Krankenkassen nicht anerkannt würde. Nun hat das BSG am 30.06.2009 entschieden, dass die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) den höheren Freibetrag ansetzen müssen, so wie es im Gesetz steht. Für Alleinerziehende mit Kind(ern), ist für das erste Kind der bisher höhere Freibetrag des sonst für den ersten Angehörigen maßgebenden Betrages in Höhe von 15% von der Bezugsgröße und somit die Summe in Höhe von 4.599,-- Euro abzuziehen. Für weitere Kinder ist der in § 62 Abs. 2 SGB V festgesetzte Kinderfreibetrag in Abzug zu bringen.
Beispielrechnung: (Ehepaar mit einem Kind)
Jahreseinkommen Ehemann 15.000,-- Euro
Jahreseinkommen Ehefrau 15.000,-- Euro
Jahresbruttoeinkommen gesamt 30.000,-- Euro
Freibetrag Ehegatte 4.599,-- Euro
Freibetrag Kind 7.008,-- Euro
zu berücksichtignedes Familieneinkommen 18.393,-- Euro
Belastungsgrenze 2% 367,86 Euro
Belastungsgrenze 1% (Chronisch Kranke) 183,93 Euro
Eine weitere Neuerung hatte das BSG am 26.06.2007 (Az. B 1 KR 41/06 R) dahingehend entschieden, dass die Freibeträge allen im Haushalt lebenden Kindern zustehen. Das heißt auch für die Kinder, welche nicht familienversichert, sondern privat versichert sind, müssen die gesetzlichen Krankenkassen den Freibetrag abziehen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 62 Abs. 2 SGB V: „für jedes Kind“des Versicherten... Häufig ist dies zuvor nicht geschehen.
Die Zuzahlungen werden als "Familienzuzahlungen" betrachtet, d.h. es werden die Zuzahlungen des Versicherten mit den Zuzahlungen seiner Angehörigen, die mit ihm im gemeinsamen Haushalt leben, zusammengerechnet. Dasselbe gilt auch bei eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften.
Verschiedene Krankenkassen bieten ihren Versicherten auch ein Quittungsheft an, in dem sie über das Jahr alle Quittungen von Zuzahlungen sammeln können. Hierzu zählen die Praxisgebühr, die Zuzahlungen zu Arzneimitteln und Hilfsmitteln. Sowie sonstige Zuzahlungen zu Fahrtkosten, Haushaltshilfen, Rehabilitationsleistungen etc.
Sollte einer Befreiung bei der gesetzlichen Krankenkasse aufgrund der angegebenen Belastungsgrenzen entgegen gesehen werden, sollte die Berechnung dieser Belastungsgrenze der gesetzlichen Krankenkasse genau geprüft werden, ob die Freibeträge in der Höhe richtig angesetzt worden sind. Sollte dies nicht der Fall sein, ist ein Widerspruch gegen die Festsetzung und eine Überprüfung anzuraten.