Elektrorollstuhl kann Teilhabe fördern; Ein Mensch mit Behinderung, der sich nicht mehr aus eigener Kraft im Nahbereich seiner Wohnung fortbewegen kann, hat Anspruch auf Elektrorollstuhl – SGB V -
(BSG Urteil vom 12.08.2009 – Az: B 3 KR 8/08 R)
Der 1946 geborene Kläger leidet an insulinpflichtigem Diabetes mellitus bei erheblichem Übergewicht. Im Zuge der Erkrankung wurden der rechte Unterschenkel und das linke Bein im Oberschenkel amputiert. Ihm ist ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen G und aG zuerkannt, er erhält Pflegegeld der Pflegestufe II.
Der Kläger, der mit einem Aktivrollstuhl versorgt ist, beantragte unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung die Ausstattung mit einem Elektrorohlstuhl (Kosten ca. 3.400 Euro). Außerhalb der Wohnung könne er sich nur mit Hilfe einer Begleitperson bewegen, die den Rollstuhl schiebe. Betreut und gepflegt werde er von seiner Ehefrau. Diese sei inzwischen mit der Schiebehilfe überlastet und auf sonstige Hilfepersonen könne er nicht zurück greifen.
Die Beklagte lehnte den Leistungsantrag nach Einholung von MDK Gutachten ab, weil der Kläger mit den vorhandenen Rollstühlen in der Lage sei, sich zu Hause und im Nahbereich der Wohnung selbstständig, jedenfalls aber mit Hilfe seiner Ehefrau zu bewegen. Die GKV schulde nur den sog. Basisausgleich, der sich an den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens orientiere.
Mit der zugelassenen Revision rügte der Kläger eine Verletzung von § 33 SGB V. Er machte geltend, die Hilfsmittelversorgung müsse dem Ziel dienen, von der Hilfe Dritter nach Möglichkeit unabhängig zu werden und so die Selbstständigkeit eines Menschen mit Behinderung zu unterstützen.
Das BSG verwies den Rechtsstreit an das LSG zurück. Zu Unrecht habe das LSG auf die Möglichkeiten der familiären Schiebehilfe verwiesen; wesentliches Ziel der Hilfsmittelversorgung sei es nämlich, den Menschen mit Behinderung von der Hilfe anderer Menschen unabhängig zu machen und ihm eine selbständigere Lebensführung zu ermöglichen. Das Hilfsmittel Elektrorollstuhl stelle wegen seiner andersartigen Konstruktion und Betriebsform ein „aliud“ zu einem Aktivrollstuhl dar. Der Elektrorollstuhl könne hier zum Behinderungsausgleich erforderlich sein.
Ein Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl bestehe grundsätzlich, wenn ein Versicherter nicht (mehr) in der Lage sei, den Nahbereich der Wohnung mit einem vorhandenen Aktivrollstuhl aus eigener Kraft zu erschließen, Spazierfahrten in der Umgebung zu machen und an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Ob dies vorliegend der Fall sei, habe das LSG trotz zahlreicher Hinweise des Klägers auf seine fortschreitende Arthrose und entsprechender Atteste nicht ausreichend geprüft; diesbezügliche medizinische Feststellungen seien deshalb nachzuholen.
Anmerkung:
Das BSG hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass nach den bisherigen Erkenntnissen (weitere Atteste sind einzuholen) vieles dafür spreche, dass ein Anspruch auf die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl besteht. Es hat ergänzend auf § 4 Abs. 2 Nr. 1 SGB I verwiesen, aus dem sich ein Recht des Versicherten auf die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit ergebe.
Bei der Wahl zwischen geeigneten Hilfsmitteln sei § 33 SGB I zu beachten. Es solle den angemessenen Wünschen des Berechtigen entsprochen werden. An diese Regel knüpft auch das „Wunsch.- und Wahlrecht“ von Menschen mit Behinderung bei der Rehabilitation und der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft an (§ 9 Abs. 1 SGB IX). Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation sei dies von den Krankenkassen zu beachten.
Rechtsanwältin Franziska Benthien